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U-Bahn Geiger Joshua Bell: Der Tunnelblick im Alltagsstress

von Mrz 4, 2012Impulsgeschichten

Dass der Star der Geiger Joshua Bell den Kosenamen U-Bahn Geiger trägt, verdankt er einem Experiment aus 2007. Die Washington Post beschreibt, wie Joshua Bell in der U-Bahn Station Kompositionen von Bach u.a. darbot und wie ihm das quittiert wurde…

Routinen erleichtern den Alltag. Denn beständiges Wiederholen erzeugt unbewusstes automatisiertes Verhalten. Das Gehirn reduziert so Komplexität und spart Energie. Nur verlieren wir dabei oft die Achtsamkeit für den Moment und vertun die Chance, uns von seiner Qualität überraschen zu lassen. Wir sind nicht mehr präsent und neugierig wie ein kleines Kind im Moment, um ständig unseren Horizont zu erweitern und die Welt zu erkunden. Dadurch verlernen wir die Leichtigkeit des spielerischen Lernens. Wir sind so konditioniert und unter Stress, dass wir uns nicht mehr umschauen und mit einem Tunnelblick durch die Welt laufen. Ein Experiment der Washington Post mit Joshua Bell mit dem Titel „Stop and hear the music“ (zum Videoausschnitt) verdeutlicht das eindrücklich: [1]

 

Der U-Bahn Geiger.

An einem kalten Morgen im Januar in 2007 stellte sich ein Musiker in eine U-Bahn Station in Washington DC. Er geigte während der Rush Hour 45 Minuten lang. Sechs Stücke von J.S. Bach, Schubert u.a. Etwa 1.097 Menschen mussten in der Zeit an ihm vorbei gegangen sein – die meisten von Ihnen auf dem Weg zur Arbeit. Nach 3 Minuten realisierte ein erster Passant den Musiker. Er verlangsamte seinen Schritt, blieb kurz stehen und eilte dann wieder weiter. Eine Minute später erhielt der Musiker den ersten Dollar. Eine Frau warf das Geld im Vorbeigehen in die Kappe vor ihm. Erneut vergingen ein paar Minuten. Tatsächlich blieb ein Mann stehen und lauschte der Musik. Als er dann auf die Uhr blickte, lief er abrupt wieder los, offensichtlich spät dran.

In den 45 Minuten hielten am Ende nur 7 Leute an und genossen die Musik. 27 gaben Geld, meist im Vorbeigehen: insgesamt 32 Dollar. Als er mit dem Spielen fertig war und wieder Stille in die Metrostation einkehrte, applaudierte niemand. Doch wusste auch niemand, dass der verkleidete Straßen-Musiker in Wirklichkeit der Star Geiger Joshua Bell war – einer der talentiertesten Musiker der Welt, von dem die Fachwelt sagt „er spielt wie ein Gott“. Die Ironie dabei: Zwei Tage zuvor hatte Joshua Bell ein Konzert in Boston gegeben – mit einem Preis pro Eintrittskarte von im Mittel 100 Dollar. In der U-Bahn Station hatte er einige der schwierigsten Stücke, die je komponiert wurden, dargeboten – auf einer Stradivari Violine im Wert von 3,5 Millionen Dollar. 

Aufmerksamkeitsblinzeln: Tunnelblick.

Das Experiment hat Joshua Bell den Kosenamen der U-Bahn Geiger beschert. Und es sagt viel über uns selbst und unsere Achtsamkeit für den Moment. Wie schnell verlieren wir die im Alltagstrott. In der Hektik und im Stress eilen wir gerne wie mit Scheuklappen [2] vor den Augen durch die Welt. Aus einer Fülle von Wahrnehmungen wählen wir nur einen kleinen, uns gut vertrauten Anteil aus. Aus einer Fülle möglicher Erklärungen für sie wählen wir nur wenige, uns gut vertraute. Und aus einer Fülle von möglichen Bewertungen wählen wir oft nur eine einzige. Viele Begebenheiten kategorisieren wir so im Bruchteil von Sekunden als irrelevant. Nach ca. 30 Sekunden vergessen wir sie wieder ganz. Wir nehmen Qualitäten außerhalb unseres Fokus, quasi links und rechts des Weges, nicht mehr wahr.

Bewusste Achtsamkeit.

Doch auch die Umkehrung gilt: Achtsamkeit für das Hier und Jetzt transzendiert die Zeit und schärft die Wahrnehmung. So mag sie manche schöne Überraschung zu Tage fördern. Dafür hat das menschliche Hirn eine Begabung: Es ist in der Lage, über sich selbst und andere nachzudenken und zu reflektieren. Der Mensch kann durch bewusstes Nachdenken und Wiederholen neue neuronale Vernetzungen verschalten und sein Verhalten verändern.

Wenn wir die Gesellschaft, wie sie heute tickt, zum Positiven verändern wollen, dann beginnt dies damit, dass wir unseren Umgang miteinander verändern. Dass wir achtsam nicht nur für den Moment und uns selbst werden, sondern auch für die Bedürfnisse, Neigungen und Wünsche der anderen um uns. Menschen sind soziale Wesen und sind in ihrer Entwicklung auf andere angewiesen. Gemeinsam gelingt es, viel mehr kognitive und emotionale Fähigkeiten zu entwickeln und eingefahrenes Denken, Handeln, Fühlen zu verändern. Joshua Bell hat es uns vor Augen geführt, was uns entgeht, wenn wir nicht bewusst auf die bunten Töne im Alltag hören…

Gerade in der Medizin.

Wer achtsam, frei und offen im Wahrnehmen ist, wird nicht nur Chancen, sondern auch Probleme und Risiken eher erkennen. In der Medizin etwa, werden seltene Verläufe, die wenig im Fokus sind und sich nur langsam ankündigen, dann aber verhängnisvoll verlaufen können, nicht immer früh genug erkannt.

• Eine kardiale Embolie kann etwa zu einem Verschluss einer Mesenterialarterie, zu Sauerstoffunterversorgung, Sepsis und zu verzögertem Darminfarkt führen. Wird das Blutgerinnsel nicht in der Frühphase erkannt und therapiert, kann dies zum letalen Ausgang führen.

• In deutschen Kliniken erleiden etwa 3,5% der stationären Patienten eine nosokomiale Infektion. Bei mehr als 19 Millionen stationären Patienten p.a. sind dies 665.000 Betroffene, von denen noch immer bis 20.000 an einer nosokomialen Sepsis versterben. Sind Stress und Tempo zu hoch, geht die Achtsamkeit für Maßnahmen wie einfache Handhygieneverloren.

Ähnlich zitiert Daniel Coleman ein Experiment, bei dem selbst medizinisch geschultes Personal unter Stress einen Verletzten im Vorbeieilen nicht wahrnimmt. So bleibt zu reflektieren: Brauchen wir mehr Entschleunigung, um unsere Fähigkeit zu sozialem Miteinander zu verbessern?

 

[1] Zum Artikel der Washington Post über das Experiment mit Joshua Bell vgl. www.washingtonpost.com/wp-dyn/content/article/2007/04/04/AR2007040401721.html.

[2] Tunnel- oder Scheuklappenblick meint die Verengung des Blicks in eine Richtung. In der Psychologie meint man damit die Einschränkung des Sichtfeldes durch eingeschränkte Wahrnehmung des Gehirns, z.B. durch die Einwirkung von Alkohol. Einen Tunnelblick kann man auch unter Angst und Stress bekommen, wo alle Aufmerksamkeit nur noch in eine Richtung geht, ebenso aber auch bei ganzem Fokus auf eine Sache. Bei Bedrohungen kann es sein, dass man seinen Blick nicht mehr von der Gefahrenquelle nehmen kann – und deshalb dieser zum Opfer fällt. Im übertragenen Sinn ist Tunnelblick die Unfähigkeit, oder auch die Unwilligkeit, etwas wahrzunehmen, das außerhalb dessen liegt, das man kennt oder was einen interessiert.


 

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